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«DIE STÖRUNG ALS CHANCE»

Der Regisseur Manuel Flurin Hendry über seinen Debut-Film «Strähl».
Ein Gespräch mit Philipp Amrein

– Wie kam es zu «Strähl»?

Die beiden Autoren Michael Sauter und David Keller (Drehbuch auch von «Achtung, fertig, Charlie») sind alte Freunde von mir, haben sich 1995 auf meinem ersten Kurzfilm in Zürich kennen gelernt und sind seither ein Autorengespann. Vor vier Jahren haben mir die beiden dann ihren ersten Langfilm-Drehbuchentwurf nach Berlin geschickt. Der Film hiess damals noch «Wachtmeister Strähl», war eine sprunghaft-skurile Szenenfolge rund um den potenzgehemmten, menschenscheuen Polizisten Herbert Strähl. Im Kern war darin schon alles angelegt, was auch den fertigen Film auszeichnet: die lakonische Erzählweise, der Humor, das genau beobachtete Lokalkolorit, die brillanten Dialoge, die leichte Melancholie. Auch das Figurenkabinett stand fast schon vollzählig. Ich war augenblicklich begeistert und wusste: ich will diesen Film machen! Ein Jahr später kam dann die erste Drehbuchfassung. Mit der bin ich dann in Deutschland von Produzent zu Produzent gelaufen, hab auch das ZDF dafür interessieren können, aber so richtig passiert ist erst mal ein Jahr lang gar nichts. Im Herbst 2001 sind wir dann mit dem Buch zu Dschoint Ventschr gekommen. Samir war sofort von dem Projekt begeistert und hat uns unter seine Fittiche genommen. Anfangs 2002 kam Susann Rüdlinger dazu, und von da an ging's dann richtig los.

– Wie war die Zusammenarbeit mit den Autoren?

Grossartig! Grauenhaft! (lacht) Von allen Arbeitsbeziehungen beim Film ist die Beziehung Regisseur-Autor wohl eine der diffizilsten. Wenn dann auch noch – wie in unserem Fall – die Erfahrung als Filmzuschauer diejenige als Filmemacher bei weitem übersteigt – sprich: drei blutige Anfänger am Werk sind, die sich für absolute Genies halten – dann kann es schon mal auch heftigst knallen... Wir haben diese Geschichte also zusammen entwickelt, aber mein Anteil daran war eher beratender Natur. Die kreative Leistung kam von den beiden Autoren selbst. Ihnen gebührt Ruhm und Ehre für alles, was gut ist an «Strähl» – und den Rest kann man gerne dem Regisseur in die Schuhe schieben... (lacht)

– Und woher hatten die Autoren ihre Idee?

Entstanden ist das ganze ursprünglich dadurch, dass Michael und David in Zürich an der Langstrasse gewohnt haben, einem sehr heterogenen, urbanen Bezirk, wo sich Junkies, Dealer, Nutten und Polizisten irgendwie ihr Territorium mit dem Rest der Welt teilen müssen. Als den beiden eines Tages auf einem ihrer Spaziergänge ein absolut filmreifer Krakeeler-Dialog zwischen zwei Junkies zu Ohren kam, dachten sie sich plötzlich: warum nicht hier ein Film handeln lassen? Mit all diesen Menschen hier als Figuren?

– In ihrer ureigenen Sprache...

...genau! Den Dialekt, den Sound dieser Menschen einzufangen, ihr ganz spezifisches Vokabular kunstvoll so zu formen, dass es sich anhört “wie echt" – das hat in der Schweiz seit Kurt Früh wohl niemand mehr in so bezaubernder Weise hingekriegt wie die beiden. Insofern ist Strähl auch eine Art von Heimatfilm, eine leicht verquere Hommage an Frühs “Büezer"-Filme aus den Fünfziger Jahren. Die drei Clochards aus “Hinter den sieben Gleisen" beispielsweise kann man mit gutem Recht als Paten-Onkels von René, Fritz und Anz sehen... (lacht)

– Du lebst seit 1995 in Berlin, hast dort Filmregie studiert. Gibt dir das nicht auch eine gewisse – sagen wir einmal: romantisierende – Distanz zur Schweiz?

Ganz gewiss. Für einen Auslandschweizer wie mich hat dieses dialektale, dieses dörfliche natürlich noch einmal einen ganz besonderen Charme. Ich spüre oft, wie die Schweizer sich an ihrer eigenen Provinzialität reiben – es gibt da eine Art von masochistischem Minderwertigkeitsgefühl, das ich absolut nicht verstehe. Klar: die Schweiz ist Provinz – aber gerade das ist doch das grossartige! Alle Schweizer Künstler haben hier ihre ureigenen Stoffe gefunden, in dieser Kleinteiligkeit und Enge. Insofern war es für mich auch eine sentimentale Entscheidung, meinen ersten Spielfilm in der Schweiz zu drehen – in einem Milieu, das ich kenne, mit Figuren, die meine Muttersprache sprechen. Das ist gerade bei einem Erstling von entscheidender Bedeutung, da es eine gewisse Vertrautheit zulässt, die neben dem ganzen Stress, mit dem man sich herumschlagen muss, angenehm beruhigend wirkt.

– Welchen Arbeitsansatz hast du für dich als Regisseur gefunden?

Die wichtigste Aufgabe eines Regisseurs ist sicherlich, genau zu wissen, wann es ihn nicht braucht. Tendenziell sagt man immer zuviel – und als Vielsprecher bin ich da selbst natürlich besonders akut gefährdet... (lacht)

– Ein sehr koketter Ansatz

...klar, aber trotzdem absolut ernst gemeint. Natürlich bin ich da auch stark geprägt von meiner eigenen Erfahrung, Filme für andere Regisseure zu schneiden. Wenn ein Regisseur seine Aufgabe darin sieht, seine Ideen auf Teufel komm raus durchzuboxen und nicht in der Lage ist, sich die Kreativität seiner Mitarbeiter nutzbar zu machen – wofür braucht er dann überhaupt Mitarbeiter? Die beste Analogie zu einem Regisseur ist ein Dirigent. Der schreibt die Musik nicht selber, spielt auch kein Instrument. Er erarbeitet die Konzeption, schaut, dass alles zusammenpasst und muss dafür sorgen, dass jeder einzelne Musiker über seine Leistungsgrenze hinauswächst. Die Künstler, das sind die anderen, die Schreiber und Schauspieler. Ein Regisseur soll sich unsichtbar machen. Was mich aber nicht davon abhält, ein absolut obsessiver Detailfanatiker zu sein.

– Worin lag für dich der Reiz des Stoffes begründet?

In der Figur von Strähl, ganz klar. Diese Widersprüchlichkeit, das sperrige, querulantenhafte an ihm, seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit, seine Obsessivität, sein Hang zu Selbstzerstörung ... da habe ich schon viel von mir selbst darin wieder erkannt. Die dunkleren Seiten eher. Dinge, über die man nicht gerne spricht. Ich mache lieber Filme darüber, das ist dann auch für die Mitwelt angenehmer.

– Was ist eigentlich Strähls Problem?

Das müsste man ihn mal fragen, ja... Der Strähl ist ja einer, der sich das Leben schwerer macht, als es eigentlich sein müsste. Man könnte auch sagen: ein klassischer Workaholic, der unter akutem Erotik-Mangel leidet. Ein sehr unglücklicher, einsamer Mensch, der immer seinem Umfeld die Schuld an seiner Misere zuschiebt, bis er schliesslich gegen die Wand klatscht, wodurch dann eine gewisse Selbstreflektion einsetzt.

– Ist Strähl zu sehr Polizist, um noch Mensch sein zu können?

Ganz genau. Das gilt aber auch für andere Berufe: wenn man sich über seinen Beruf definiert, führt das in der Regel zu Magengeschwüren, Herzinfarkten und Depressionen – zu einem sehr unglücklichen Leben also. Kalter Entzug ist da das einzige, was hilft, und genau diesen Weg geht Strähl denn auch: er katapultiert sich selbst aus seinem Job heraus. Als der Entzug dann vorbei ist, fängt er an, Drogen zu nehmen und seine Sexualität wieder zu entdecken. Aber eigentlich müsste er nur mal Urlaub machen. Und endlich seinen Beruf aufgeben. Sich selbstständig machen. Nachtwächter werden. Oder Künstler vielleicht...

– Arbeit als Sucht also. Kann man sagen, das Sucht ganz allgemein ein Leitthema ist in diesem Film?

Sicherlich: Sucht und, damit verbunden, Verantwortung. Die Leichen im Keller – oder eben die Tabletten im Badezimmerschrank. Strähl hat Mühe damit, sich seine Probleme einzugestehen und sich helfen zu lassen. In seiner Welt geht das nicht. Er ist zudem ein eher wortkarger Charakter, der sich kaum über Sprache definiert. Bei einer Filmfigur ist das immer sehr interessant, da man vieles über die Handlung darstellen muss.

– Dafür ist der Junkie René eine umso gesprächigere Figur...

...ja, eigentlich seltsam, nicht war? Wenn Strähl seine Träume so genau artikulieren könnte wie René dies tut, dann wäre er schon einen gewaltigen Schritt weiter... (lacht) Das Schöne an René ist ja, dass er den Traum vom besseren Leben immer noch träumt. Strähl ist der Outlaw, während René der perfekte Kleinbürger ist – oder sein könnte, wenn er denn nicht ständig über seine Heroinsucht stolpern würde. Als Zuschauer leidet man ja über solche Gemeinsamkeiten mit den Figuren. Man will einerseits das Exotische sehen, andererseits aber auch das Gefühl vermittelt kriegen, mit seinen Problemen nicht alleine zu sein. «Strähl» erzählt von solch extremen Charakteren, die zugleich eine sehr menschliche Seite offenbaren.

– Wie sind die Schauspieler mit diesen Figuren umgegangen?

Bei Roeland Wiesnekker als Herbert Strähl war das ein langer Prozess. Er stand schon früh als Hauptdarsteller fest und konnte so die verschiedenen Drehbuchfassungen begleiten. Als dann die Proben anliefen, hatte er bereits ein sehr ausgeprägtes Bild dieses Charakters. Kommt hinzu, dass er mit wenigen Anweisungen auskommt, auf dem Set nicht auf permanente Kommunikation angewiesen ist. Diese im Gegenteil oft geradezu meidet, um ganz bei seiner Figur bleiben zu können. Auch Johanna Bantzer als Carol kannte das Buch bereits seit mehreren Fassungen und brachte eine sehr genaue Idee von ihrer Figur in die Proben mit. Mit ihr habe ich viel über die Motive, den Antrieb ihrer Figuren diskutiert. Als es schliesslich an die konkrete Recherche ging, habe ich den Schauspielern mein diesbezügliches Wissen weiter gegeben und ihnen die Informationen beschafft, die sie zur – biographischen und physischen – Ausgestaltung ihrer Rolle gebraucht haben.

– Wie war denn eigentlich die Drehsituation an diesen stark belebten, seltsam bevölkerten Orten an der Langstrasse?

«Strähl» ist ein Low-Budget-Film – wir konnten es uns nicht leisten, auch nur eine einzige Strasse abzusperren. Dadurch setzt man seine Schauspieler ziemlich vielen, mitunter unberechenbaren Faktoren aus. Es ist oft passiert, dass zwei Sekunden vor Drehbeginn noch ein Passant durchs Bild wuselte, oder dass irgendein Freak mitten in einer Einstellung Sprüche zu klopfen begann. Die ureigenste Aufgabe eines Schauspielers ist es ja, für die Dauer der Einstellung sein soziales Schutzkostüm fallen zu lassen und sein Innerstes nach aussen zu kehren. Das ist ein sehr fragiler Zustand, wie eine Schnecke ohne Panzer, und wenn man dann einen Tritt versetzt kriegt, kann das dazu führen, dass man beim nächsten Mal den Panzer gar nicht mehr ablegt...

– Eine sehr exponierte Arbeitsweise also.

Ja, aber der positive Aspekt an dieser Drehsituation ist der, dass man die Atmosphäre der Umgebung aufsaugen und in die Darstellung einfliessen lassen kann. Die Störung als Chance sozusagen. Beim Drehen selbst mussten wir flexibel bleiben, haben also mit leichtem Equipment und knapper Beleuchtung gearbeitet. Man ist dann auch nicht so auffällig. Trotzdem kamen ständig Passanten und sprachen uns an. Es gab auch Drohungen. Das einzige Gegenmittel ist dann Geduld, den Leuten zu erklären, dass wir hier einen Spielfilm und eben keine Dokumentation drehen. Mit der Zeit kannten uns die Langstrassen-Bewohner, das Verhältnis konnte sich entspannen, und es stellte sich fast so etwas wie Vertrautheit ein.

– Wie haben sich die Schauspieler auf dieses Milieu vorbereitet?

Sie haben sich natürlich intensiv mit den Auswirkungen all der verschiedenen Drogen befasst und vor Ort an der Langstrasse recherchiert, um ein Gespür für die Sprache und das Verhalten der Leute zu kriegen. Bei Recherchen geht es ja eigentlich auch darum, die Fantasie anregen zu lassen – Fakten zu finden, an denen sich die Vorstellung entzünden kann und so der Figur eine Tiefe verleiht, die aus dem Text allein heraus nicht erreichbar wäre.

– Kann man denn einen Junkie überhaupt spielen?

Gute Frage... Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt auf der Strasse haben, spielen ja selber oft wie auf einer Bühne ihr eigenes Klischee. Ein schwer süchtiger Junkie ist natürlich auch eine sehr eindimensionale Figur – sein ganzer Alltag ist fast ausschliesslich um die Droge herum strukturiert. Von der Suche nach dem Stoff, dem Konsum, dem Entzug und dann wieder alles von vorn... Aber «Strähl» ist ja auch kein Junkie-Film – sofern es dieses Genre überhaupt gibt – sondern ein Spielfilm, in dem halt Junkies vorkommen – so wie in anderen Filmen eben Politiker oder Anwälte.

– Die inszenierten Räume verblüffen oft, und mitunter fragt man sich: Hat die Stadtpolizei Zürich tatsächlich solche abgedunkelten Verhörzimmer?

Tja, grosse Verbeugung vor unserem Ausstatter! Aber es geht ja auch nicht um naturalistische Abbildungen, sondern darum, ein in sich stimmiges Umfeld zu generieren. Die Ästhetik von «Strähl» ist sozusagen zweigeteilt: draussen dominiert (auch aus Kostengründen) der Naturalismus, während die Innenräume mehr wie Zustände gebaut sind. Ein gutes Beispiel ist Strähls Wohnung, die sozusagen ein anti-realistischer, fast innerlicher Raum ist, sehr schwach ausgeleuchtet und karg möbliert – wie Strähl selbst eben. Realität in diesem Sinne interessiert mich eigentlich nicht. Oder nur insofern, als dass sie Anekdoten produziert. Kleine Geschichtsbrocken, aus denen sich eine Welt zusammenbasteln lässt.

– Da muss man ja sorgfältig sein, denn der Zuschauer ist immer ein Besserwisser

Na, na. Sagen wir doch einfach: der Zuschauer ist grundsätzlich immer schlauer, als der Filmemacher sich ihn denkt – oder gerne denken würde. Die Popularisierung der DVD hat ihr übriges dazu getan, cineastisch gebildete Menschen in nie zuvor gekanntem Ausmass zu produzieren. Wenn Du aber einen Film wie «Strähl» in Zürich drehst, in einer für das lokale Publikum dermassen definierten Gegend, dann darfst du dich nicht zu stark mit Authentizität aufhalten. Der Anspruch war, für die Zürcher eine Geschichte zu erzählen aus einer Welt, die sie kennen, für Nichtzürcher jedoch einen Film zu machen, der einen Einblick in einen speziellen, unverwechselbaren Mikrokosmos ermöglicht.

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